Derzeit macht eine Abklatschkombi aus Freud, Marx
und Phallokratie die Runde. Seitenlange Elogien zu
Massenmördern werden verfasst. Aus welchen
Arrondissements, familiären Milieus und kriminellen
Kontexten sie stammen. Dabei sollten Mörder weder
Namen noch Geschichte erhalten. Nicht sie sollen
Schlagzeilen machen, sondern die Menschen, die sie
ausgelöscht haben. Genau das Gegenteil passiert.
Einige Journalisten und Experten haben sich
regelrecht auf Täterheroisierung spezialisiert. Dabei
stellt uns das Böse nicht einfach vor die
Herausforderung, es zu verstehen, sondern es zu
verurteilen. Ist der Täter einmal im Vordergrund,
folgt sofort das Täterkuscheln. So alphabetisiert man
Schlächter. Beispiel gefällig? Statt unter
Aufklärenden zu diskutieren, werden ständig
perverse Fundamentalisten in die Talkshows
geladen. Je extremer (AfD, Salafisten, ISZR etc.)
umso mehr Sendezeit. Der engagierte und kluge
Atheist Valentin Abgottspon, der oft als Einziger
radikal-fundamentalistischen Vertretern
irgendwelcher katholischen, islamistischer oder
sonstigen Religionen entgegentritt, brachte den
Mechanismus auf den Punkt: „Der IZRS hatte schon
mehr Auftritte bei SRF als er zahlende Mitglieder
hat.
Diese mediale Mittäterschaft weist eine terroristische
Blutspur auf. Sind dies Quoten wirklich wert?
Lassen wir doch endlich die Opfer zu Wort kommen!
Quandeel Baloch, feministische Aktivistin aus
Pakistan beispielsweise. In diesen Tagen wegen
ihrem Engagement für Frauen ermordet. Lesen wir
Kamel Daoud, einen der grössten Autoren in der
arabischen Welt. Seit Jahren gegen die theologischen
Gerontokraten in Algerien anschreibend, dafür seit
2014 mit der Fatwa bedroht. In seinem Roman „Der
Fall Mersault“ verleiht er den Opfern seine Stimme,
ähnlich wie er in seinem grossen Artikel für die „Le
Monde“ die Silvesternacht in Köln analysierte: „Der
Andere kommt aus jenem riesigen schmerzvollen
und grauenhaften Universum, welches das sexuelle
Elend in der arabisch-muslimischen Welt darstellt,
mit ihrem kranken Verhältnis zur Frau, zum Körper
und zum Begehren.“ Ja, klar.
Mittwoch 20 07 2016
Umso schockierender, was dann die französische Elite
mit Kamel Daoud anstellte. Statt Diskussion und
Verbreitung dieses Kerns der Kritik an der Gegenwart
zu lancieren, verdammten die Salonhistoriker, -
anthropologen und –soziologen den Algerier. Sie
verurteilten Daoud mit der übelstmöglichen
Beschimpfung: Er bediene mit solchen Texten die
islamophoben Phantasien des Westen. Kamel Daoud
verstummte. Was weder Fatwa noch Diktatur geschafft
hatten, erreichten die klugscheisserischen Terassen-
Mittäter in Paris: Sie nahmen Daoud den Mut,
weiterzuschreiben. Die Verblendung, semantische
Korrektheit höher zu bewerten als politisches
Engagement ist das Krebsübel der Gegenwart. Dem
Vorwurf, eventuell islamophobe Fantasien zu füttern,
folgt sofort eine Täterheroisierung inklusive
Täterbekuschelung. Beides zusammen deutet die Opfer
zu eigentlichen Mittätern um: „Ihr seid schuld, wenn
wir Folterer, Menschenschlächter und Massenmörder
werden.“
Wie meinte die von ihrem Bruder ermordete
Pakistanerin Quandeel Baloch? „Als Frauen müssen
wir für Gerechtigkeit aufstehen.“ Ihr Leben hätte
gerettet werden können, hätten die Pariser Salons sie
zitiert. Doch sie zogen es vor, die Täter zu schützen
und stattdessen den aufrechten Kamel Daoud zu
prügeln.
@laStaempfli
Regula Stämpfli: Das grosse Täterkuscheln
Veröffentlicht im
Veröffentlicht in der
Basler Zeitung, 19.7.2016
@laStaempfli