«Charlie Hebdo» ist wieder in den Schlagzeilen.
Wenige Tage nach dem Erdbeben in Amatrice
veröffentlichte die Satirezeitschrift «Erdbeben nach
italienischer Art».
In der Bilddarstellung werden die Opfer als
Pastagerichte dargestellt. Nach einem Shitstorm im
Netz verklagt das schwer zerstörte Amatrice die
Satirezeitschrift wegen Diffamierung. Für den Klein
Report kommentiert Medienexpertin Dr. Regula
Stämpfli.
Naturkatastrophen und Unfälle sind strukturell
gesehen immer ganz besondere «Medien»-
Ereignisse. Am 1. November 1755 wurde die
damalige «Königin der Meere» durch ein Erdbeben
dem Erdboden gleichgemacht. Tausende von
Menschen wurden unter den Trümmern begraben,
der Himmel war mit einer Staubwolke bedeckt,
Feuer folgte, legte grosse Teile der Stadt in Schutt
und Asche. Flutwellen zerstörten den Hafen und
ertränkten Tausende von Menschen, die am Rande
des Meeres Schutz vor dem Feuer gesucht hatten.
Lissabon 1755 gab Ausschlag zu unzähligen
philosophischen, literarischen, kurz medialen
Abhandlungen. Kant, Voltaire und Goethe äusserten
sich dazu: In Lissabon starb in der Erzählung der
damaligen Denker der christliche Gott. Nach
Fukushima 2011 schrieb ich vom Tod des
technokratischen Gottes. Denn die Katastrophe in
Japan war nicht einfach ausschliesslich «Natur»,
sondern in ihrer jahrhundertelangen Wirkung von
der Technik induziert.
Lissabon war Auftakt für das Denken über das Böse
als Schicksal an und für sich, Fukushima war ein
weiterer, horrender Punkt dessen, was Ulrich Beck
mit der modernen «Risikogesellschaft»
gekennzeichnet hat. Naturkatastrophen haben im 21.
Jahrhundert das zusätzliche Übel, dass sie in
Verbindung mit Technik, Politik, Baumassnahmen,
Landschaftsgestaltung das schon existierende Leid
multiplizieren.
Während indessen Katastrophen als solche auch
gerichtlich verfolgt werden können und die
Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden,
kennen Naturkatastrophen keinen Gerichtshof.
Ansonsten hätte auch der Hurrikan Katrina schon
unzählige Bauherren, Stadtplaner und Politiker
hinter Gitter gebracht.
«Charlie Hebdo» hat in zynischer Art und Weise den
Zusammenhang zwischen Naturkatastrophe und der
Mitschuld der Politik inklusive Technik auf den
Punkt bringen wollen - jedenfalls kann die
Bilddarstellung auch so interpretiert werden. Dabei
hat die Redaktion inklusive Karikaturist nicht
bedacht, dass sie damit die unzähligen Opfer
verletzen. Dennoch finde ich den Hinweis, dass
selbst Naturkatastrophen nicht einfach «Natur» und
die Zerstörung inklusive der Tod so vieler Menschen
nur «Schicksal» ist, wichtig.
Es geht doch auch darum, solche furchtbaren
Verheerungen in Zukunft zu verhindern. Es geht
darum, gerade bei Bauwerken, Städten und
Versorgung von Menschen sorgfältig und nachhaltig
zu planen. Wie oft lesen wir in den Zeitungen, dass
diese und diese Massnahme von den Behörden
verschlampt wurde, weil dazu kein Geld vorhanden
war und man einfach auf Zeit setzte und darauf
Mittwoch 14 09 2016
hoffte, dass - entgegen der Geschichte und der
Berechnungen von Fachleuten - nichts passieren
würde?
«Charlie Hebdo» hat mit seinen Bilddarstellungen auf
die «italienische Krankheit» hingewiesen - die Mafia,
die nicht erst seit den eindrücklichen Berichten des
ständig mit dem Tod bedrohten Journalisten Roberto
Saviano («Gomorrha: Reise in das Reich der
Camorra») fast täglich üble Schlagzeilen macht. Italien
ist von mehreren undemokratischen Netzwerken
überzogen, in denen alle mitmachen:
Kleinunternehmer, Journalisten, Politiker, Beamte,
sowohl links wie rechts, im Norden wie im Süden.
Man denke nur an den Fall Moro, von dem erst
kürzlich die Mittäterschaft der US-Geheimdienste vom
obersten Gericht festgestellt wurde, und man
erschreckt über die Geschichte Italiens der
Nachkriegszeit.
«Charlie Hebdo» hat wahrscheinlich mit der
Zuspitzung der Bilderserie zu Amatrice auf all diese
Zusammenhänge hinweisen wollen, doch in der
Umsetzung waren die Bilder nur eine Verhöhnung der
Opfer.
Amatrice sollte indessen nicht einfach auf
«Diffamierung» gegen «Charlie Hebdo» klagen
(obwohl der Schritt durchaus nachvollziehbar und
legitim ist), sondern gegen die italienische Herrschaft
der Unverantwortlichkeiten. Wie können neue Bauten
so leicht einstürzen? Weshalb warnt der oberste Anti-
Mafia-Staatsanwalt des Landes vor einer Beteiligung
Krimineller am Wiederaufbau? Der frühere italienische
Regierungschef und EU-Kommissionspräsident
Romano Prodi forderte einen 30-Jahresplan für sein
Land, da in stark erdbebengefährdeten Regionen «ohne
Vernunft und Voraussicht» gebaut worden sei. «Unser
Ziel darf es nicht mehr sein, die Städte und Dörfer um
jeden Preis zu erweitern, sondern das, was existiert,
sicher zu machen.»
Deshalb zeigt die Auseinandersetzung Amatrice gegen
«Charlie Hebdo» sehr viel über Recht, Politik und
Medien und die Notwendigkeit, Naturkatastrophen nur
dort als Schicksalsschlag zu bewerten, wo wirklich die
«Natur» Übeltäterin war, aber dort, wo es
Verantwortung gibt, die auch zu benennen und daraus
für die Zukunft zu lernen und dies medial auch endlich
mal so zu kommunizieren.
Denn das, was wir «Natur» nennen, ist mittlerweile ein
vielarmiges Monster, das sich aus Technik,
Wissenschaft, Wirtschaft, Macht und Kosten
zusammensetzt.
@laStaempfli
Regula Stämpfli:
Erdbeben gegen «Charlie Hebdo»
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Veröffentlicht in der
Erdbeben von Lissabon 1755: Ist Gott tot?